Der 6. Tag

Sie dauert bis in den Morgen hinein und als in der ersten Dämmerung des sechsten Tages ein Telefon klingelt, packt Schmarrtina, die Prinzessin aus dem nördlichen Regengebiet ihre Koffer. „Ich muss ihn wiederfinden – finden – finden“, flüstert sie mädchenhaft und so frisch als hätte sie überhaupt keinen Urlaubsstress gehabt. Dann setzt sie sich in ihre Kutsche, einen offenen Landauer, genauer gesagt in ein schmuckes BMW-Cabrio und schwebt davon. Viele schwarzglänzende Pferde (stärken) tragen sie aus dem Zwergenland und uns ist als hätten wir eine verständnisvolle Freundin an die Unendlichkeit verloren.

Wieder klingelt das Telefon. Sind das die Fanfaren des Triumphmarsches aus der Oper Aida, die der große tote Mann in seiner Arena erschallen ließ?

Draußen, vor der Terrasse, vor dem Zwergenhaus, im Disneyland unserer Hochgefühle glitzert der mediterrane See. Aber irgendwie hat er an Leuchtkraft verloren. Eine Botschaft schimmert mit rosafarbenen Lettern auf gelblichem Papier durch seine Wasser. – Ist heute der sechste Tag? Wie lässt sich das zählen? Wieviele Tage uns das Schicksal gibt, erzählt uns nur jene Illusion die das Universum im Bewusstsein entfacht. Sind Anzahl und Dauer aller unserer Tage variabel in unserem Erleben? Ein uraltes, naturreligiöses Bergvolk im Himalaja, die Gurung, behauptet ein Menschenleben bestehe überhaupt nur aus zwei Tagen, dem Tag der Geburt und dem Tag des Todes. Dazwischen liegt vielleicht nur der Traum.

Wieder meldet sich das Telefon. Seine Fanfare lässt mich schwanken zwischen dem See und dem Triumph dieser Töne, die stärker und stärker werden. Das Zwergenhaus schwankt mit mir, die Zwergenstimmen verstummen fast ganz und ich sehe mich schwer bepackt mit Eindrücken und Mitbringseln am Eingang einer langen Röhre, die sich bald in Bewegung setzt, um mich in mein nördliches Regengebiet zurückzutragen. Ein Zeittunnel aus Millionen Einzelkontinuen, in denen jeweils ein Individuum seinen Traum vom Leben träumt, fährt an meinen Augen vorbei und ich frage mich ob ich Glück haben werde. Werden die Wände des Tunnels halten?

6 ½ lange Stunden später, jedenfalls habe ich so viele Stunden gezählt, empfunden, überstanden, höre ich die letzte Fanfare – und ich schlage die Augen auf.

Seitlich an der Schlafzimmerwand verblasst, noch einmal kurz aufleuchtend, das Bild des mediterranen Sees mit seinen blau schimmernden Hügeln.

Einen siebten Tag wird es also, ebenso wie einen siebten Zwerg nicht geben. Langsam verwandle ich mich in mich selbst – was immer das sein mag – zurück und bedaure mich ein wenig. Aber ich weiß, daß ich durch meine Visionen im Zeichen der Zipfelmütze und in Schneewittchens Gegenwart wieder eine Spur unverwechselbarer geworden bin. Den Zwergen ist es hoffentlich genauso ergangen. Und sofern wir je einmal existierten, haben wir auch morgen wieder unseren Traum vom wirklichen Leben an glitzernden Seen, blauglänzenden Hügeln, von klugen Schneewittchen und von einem kompletten Satz Zipfelmützen, deren putzige Tagträumereien keine Wünsche mehr offenlassen.

Oder auch nicht!

Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  13

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  13"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  13

Autor: Sonja Soller   Datum: 01.09.2022 16:44 Uhr

Kommentar: Nun sind die Tage am mediterranen See vorbei.
Sicher gibt es auch noch die Tage danach.....?

Herzliche Grüße aus dem gegenwärtigen Norden, Sonja

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  13

Autor: Alf Glocker   Datum: 01.09.2022 20:10 Uhr

Kommentar: Jetzt kommt der Sturm

LG aus dem stürmischen Süden
Alf

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